Ohne Stammlokal ist alles doof

Einer der ersten Artikel, den ich für die Wiener Zeitung verfassen durfte, trägt den schönen Titel Das zweite Wohnzimmer nebenan. Die Grundaussage: Jeder sollte ein Stammlokal haben. Paradox, dass jetzt ausgerechnet die Autorin dieser Geschichte von einem Tag auf den anderen ohne ihr „zweites Wohnzimmer“ da steht.

Ich muss mich outen: Wenn ich etwas schreibe, steckt oft auch ein bisschen von mir selbst in dem Text. Bei dieser Geschichte ist es so gewesen: „Vor den Augen seines Kellners ein paar Tränen über eine verlorene Liebe vergießen.“ Ist anderen passiert, ist mir passiert. „Sich bei anderen Lokalbesuchern über seinen krisengeschüttelten Job aussprechen.“ Ist anderen passiert, ist mir passiert. „Eine kreative Idee ins Leben rufen, auch wenn sie am nächsten Tag wieder verworfen wird.“ Gefühlte 1000 Mal. „Mit anderen Gästen über das Leben philosophieren.“ Sowieso.

Der ältere Herr, „der üblicherweise an der Bar steht und dort in Ruhe sein Bier genießt.“ Kennt jeder, kenne ich. Unzählige davon. „Die aufgedrehte Blondine jenseits der 40, die ungefragt jedem ihre Lebensgeschichte erzählt.“ Bingo. „Die ausgelassene Partie, die den Stehtisch zwischen Bar und Tischen für sich beansprucht.“ Oft gesehen, oft selbst Teil davon gewesen. „Die Chefin des Hauses weiß ganz genau, dass der weißhaarige Mann immer ein Glas Wasser zum weißen Spritzer will.“ Zum Beispiel einer meiner besten Freunde. Jahrzehntelang Tür an Tür gelebt, kennengelernt erst im Stammlokal.

Gastlichkeit braucht Herz

Für den Artikel habe ich unter anderem Daniel Landau interviewt, einen der Betreiber des kultigen Kulturcafé Tachles am Wiener Karmeliterplatz. Die übrigens die besten Piroggi Wiens servieren, wie ich finde (kulinarischer Einschub Ende). „Unsere Gäste wollen genau dieses Familiäre. Und natürlich die Qualität unserer Küche, das Biersortiment (…), das zeitlose, gemütliche Ambiente – die Leute sollen es einfach so stressfrei wie möglich haben“, hat Landau damals zu mir gesagt. Als eine, die zwar leider viel zu selten, aber immerhin von Zeit zu Zeit selbst gerne Gast im Tachles ist, kann ich das nur bestätigen: Dieses Lokal hat Herz.

Auch Willy Turecek, Obmann der Fachgruppe Gastronomie Wien, hat mir bestätigt, wie wichtig Stammgäste hierzulande für das Geschäft sind, wie sehr der „typische Stammgast“ Wert auf die persönliche Ansprache legt: „Vom Inhaber bis zur Servicekraft, die weiß, wie ich meinen Cappuccino immer trinke“, habe ich ihn damals zitiert.

„Sollten Sie also demnächst Ihren Wohnort wechseln, dann schließen Sie die Lokale in Ihrer möglicherweise künftigen Umgebung gut in Ihre Recherche ein. Spätestens, wenn es hart auf hart kommt, wünschen Sie sich doch auch einen Ort, an dem Sie Ihren Liebeskummer oder den Frust im Job teilen können. Und sollten Sie in den neuen vier Wänden von einem Wasserschaden heimgesucht werden, dann findet sich in Ihrem Stammlokal bestimmt jemand, der auch spätabends weiß, wie man diesen repariert. Oder jemanden kennt, der weiß, was zu tun ist… Glauben Sie ‚geübten‘ Stammgästen: Spätestens dann wird man Sie dort auch beim Namen kennen und der Kellner wird ab sofort wissen, ob Sie passend zur Extremsituation lieber ein kaltes Bier, einen süffigen Rotwein oder einen Cappuccino mit viel Zucker wünschen.“ So habe ich meinen Artikel damals enden lassen.

Aus, vorbei, schön war die Zeit

Zu diesem Zeitpunkt habe ich meine Freunde selbst noch regelmäßig in unserem gemeinsamen Stammlokal getroffen. Das eine oder andere Tränchen vergossen. Den einen oder anderen Gratis-Tipp abgestaubt. Über das Leben und die Liebe philosophiert. Vermeintlich tolle Ideen geboren. Hat das Bier einmal nicht geschmeckt, kein Problem. Hat sich der Kellner verrechnet, auch kein Problem. Kleine Fehler verzeiht der Stammgast gerne – vorausgesetzt, der Rest passt.

Der hat allerdings irgendwann nicht mehr gepasst. Nach und nach hat das Lokal sein Herz verloren. Und so, wie wir uns nicht mehr wie im zweiten Wohnzimmer gefühlt haben, ist es wohl auch anderen ergangen. Ein Teufelskreis, aus dem die letzten Betreiber nicht mehr herausgefunden und nun nach 15 Jahren die Pforten geschlossen haben.

Was mir niemand mehr nehmen kann, sind die vielen Begegnungen, Gespräche, die dort geschlossenen Freundschaften. Die unzähligen Erinnerungen an schöne, lustige, aber auch traurige Abende. Zum Beispiel die komplette Planung einer wunderbar berührenden Trauerfeier für einen verstorbenen Freund. Aber auch der Abschiedsabend mit den alten Betreibern, der feuchtfröhlich bei Sonnenaufgang mit einem Bad in der Neuen Donau geendet hat. Der Liebesbeweis eines Freundes und anderen Stammgastes, der mir nach einer schmerzhaften Trennung neben der Bar stundenlang zugehört und mit mir geschwiegen hat. Diese angenehme Art des gemeinsamen Schweigens, nicht dieses „jetzt sag doch endlich was, es wird komisch“. Genau an dieser einen Stelle gegenüber der Bar, neben dem Stehtisch, den es vermutlich schon nicht mehr gibt. Die Beinahe-Schlägerei, der ich unvermittelt beiwohnen musste und die glücklicherweise ein Lokalverbot für den Beinahe-Schläger zur Folge hatte. Der Welpe mit dem treuherzigen Blick, der zum Einstand gleich den Willkommen-Teppich als sein neues Revier markiert hat. Die unvergesslichen Geburtstagsfeiern. Silvester zur Jahrtausendwende. Faule Nachmittage in der Sonne. Gelsenattacken im Schanigarten. Extrawünsche an die Küche, die jeden anderen Koch zur Weißglut getrieben hätten. Endlose Diskussionen mit den Kellnerinnen, ob nicht doch noch eine letzte Runde möglich sei. Der Abend, an dem musikalisch begabte Gäste kurzerhand ihre Gitarren ausgepackt und eine Jam-Session veranstaltet haben. Die Studentenzeit, als noch nicht mehr als ein oder zwei Getränke pro Abend drin waren. Der verrückte Kunstprofessor, der mich ganz nebenbei mit Zigarettenasche auf der Rückseite einer Speisekarte porträtiert hat.

Ja, jeder sollte ein Stammlokal haben. Nach einer Phase der Neuorientierung wird sich hoffentlich auch unser Grätzel-Freundeskreis wieder ohne viele Worte an einem guten Platz zusammen finden. Bis dahin werden wir eben intensiver darüber diskutieren, wo wir einander spontan treffen, wenn der Weg in die Stadt zu weit scheint. Und dafür ein paar Schritte mehr in Kauf nehmen müssen.

c Sabine Karrer