Leb wohl, alter Freund!

(Vor einem Jahr geschrieben und es tut noch immer nicht weniger weh als damals. So ist es wohl, wenn ein sehr, sehr lieber Mensch aus dem Leben gerissen wird …)

Zuerst ist es lediglich ein Gerücht gewesen. Krankenhaus. Okay, das trifft jeden mal. Dann: „Er schaut wirklich sehr schlecht aus… Es schaut schlecht aus.“ Zwei Tage später: „Er soll verstorben sein, aber wir wissen es auch nur aus zweiter, dritter Hand.“ Wirklich ein Gerücht? Es gibt ja viele Menschen, die irgendetwas erzählen, weil sie irgendwo irgendetwas aufgeschnappt haben. Da muss man vorsichtig sein. Nachrichten an zig Leute geschickt, die ihn auch kennen. Leute, die ich teilweise nicht einmal selbst kenne. Niemand hat eine aktuelle Nummer gehabt, niemand hat es genau gewusst. Nur von dem Gerücht hatten die meisten gehört. Immer haben sie nur gesagt: „Wenn du irgendwas erfährst, bitte sag Bescheid.“

Heute Früh habe ich kurzerhand im Krankenhaus angerufen. Ebenfalls gerüchteweise habe ich gehört, dass er in diesem Haus Patient sein soll. „Wie stehen Sie zu ihm?“ hat die freundliche Dame am Telefon herum gedruckst. „Er ist ein lieber alter Freund, den ich leider aus den Augen verloren habe. Man sagt, dass er verstorben sein soll…“ (und ganz leise) „Stimmt das?“ – „Ja, tut mir leid.“

Stille, Schluchzen, Heulen.

Warum haben wir uns aus den Augen verloren? Warum musstest du unbedingt von hier weggehen und (wieder einmal) deine Telefonnummer ändern? Einfach nicht mehr greifbar sein? Okay, ich hätte viel früher versuchen sollen, dich wieder ausfindig zu machen. Ich hätte dich gefunden, so gut versteckt hattest du dich auch wieder nicht. Man denkt eben einfach, man hätte noch so viel Zeit miteinander, dass Tage, Wochen und Monate keine Rolle spielen…

Jetzt sitze ich da und denke an die vielen Momente, die wir geteilt haben. Die vielen tollen, tiefsinnigen Gespräche mit dir. Das eine Interview, das ich mit dir führen durfte. Es war eines unserer letzten persönlichen Treffen und du bist so stolz auf mich gewesen, dass ich ausgerechnet zum Thema Stammlokale einen Artikel schreiben und auch noch dich sogar darin zitieren würde, wenn auch anonym. Du hast ja einige Stammlokale gehabt, kaum einer wer besser geeignet gewesen. Viele davon sind in Kaisermühlen gewesen – bis du schließlich von hier weggezogen bist. Warum eigentlich? Irgendwann ist meine Heimat nicht mehr der richtige Ort für dich gewesen. Zu viele schlechte Erinnerungen? Du hast nie wirklich erzählt, wieso. Aber du bist nicht mehr der selbe gewesen, irgendetwas hatte sich bei dir verändert.

In manchen deiner… unserer Stammlokale haben wir viele, viele Stunden gemeinsam verbracht. In einem haben wir sogar vor ein paar Jahren Silvester gefeiert, erinnerst du dich? Auch an diese eine Nacht, in der ich dich so verzweifelt angerufen habe? Vermutlich hätte kaum ein anderer Mensch zu dieser unchristlichen Zeit abgehoben, du hast es getan. Du bist vielleicht nicht immer der zuverlässigste Mensch gewesen. Aber wenn du gemerkt hast, dass es bei mir wirklich brennt, dann bist du immer für mich da gewesen. Auch an diesem einen Abend, an dem ich drei Stunden durchgeheult habe. Wegen einem Kerl, der es im Nachhinein nicht einmal wert gewesen ist. Du hattest dich spontan ins Taxi gesetzt und bist zu mir gefahren. Und hast es ausgehalten, mich so zu erleben. Das ist alles andere als selbstverständlich. Spätestens in dem Moment ist mir klar geworden, dass du ein wirklicher Freund bist!

Ich erinnere mich auch noch daran, als ich mich selbstständig machen wollte. Du hast das für eine verdammt gute Idee gehalten. Die Schmierzettel, auf denen du mir bei einem Bier all dein Wissen zusammen geschrieben hast, liegen immer noch bei mir zuhause. Und du hast mich ewig lange genervt, warum ich nicht endlich einen Presseausweis beantrage. Ich bin der Meinung gewesen, ich bräuchte keinen. Und ganz ehrlich: Ich brauche ihn auch so gut wie nie. Aber ich habe inzwischen einen und beim Blick darauf muss ich jetzt an dich denken und schmunzeln.

Keine Ahnung, wie viele Jahre wir uns in Summe gekannt haben. Es war eine wirklich lange Zeit. Auch unser erstes Gespräch werde ich nie vergessen. Ich habe immer deine Flyer wahrgenommen, die du in ganz Kaisermühlen verteilt hast. Anfangs hast du damit deine Kabarettveranstaltungen beworben, später hast du dein eigenes kleines Theater im Grätzel bekannter gemacht. Und dann bist du eben als Gast zu unserem karitativen Punschstand gekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt habe dich nur vom Foto auf eben deinem Flyer gekannt. Dann haben wir uns zum ersten Mal unterhalten. Wir haben uns immer wieder getroffen: erst zufällig, später mit voller Absicht. War eine schöne Zeit, lieber E.!

Irgendwann hast du mir dann auch von deinem Liebeskummer erzählt. Und überhaupt von deiner Vergangenheit. Erinnerst du dich daran? Mit jedem Detail, das ich von dir erfahren habe, ist unsere Freundschaft gewachsen. Aber ich glaube, du hättest mir nie erzählt, was mit dir los war. Du hast einmal zu mir gesagt, du würdest nicht wollen, dass dich jemand leiden sieht. Hast du jemanden bei dir gehabt, als es dem Ende zugegangen ist? Ich hoffe es für dich.

Ich habe in den letzten Stunden mit einigen deiner Bekannten von früher über dich gesprochen. Alle hatten dich irgendwie aus den Augen verloren, aber alle haben dich als „feinen Kerl“ bezeichnet, um den es sehr, sehr schade ist. Alle sind traurig. Hättest du dir das gedacht? Ist dir bewusst gewesen, welche Spuren du bei uns allen hinterlassen würdest? Wenn ich jetzt in den Autobus steige, durch mein Grätzel spaziere, an einem deiner Stammlokale vorbei gehe oder auch an dem kleinen Theater, das du einmal geführt hast, dann kommt es mir vor, als würdest du gleich irgendwo auftauchen. Mir ist zwar zum Heulen zumute, aber ich muss gleichzeitig lächeln.

Und wenn heute meine erste eigene Fotoausstellung zu Ende geht, werde ich möglicherweise diesen Text vorlesen. Oder vorlesen lassen. „Liebe ist… Leben ist…“ ist das Thema. Lieber E., Liebe bedeutet auch Freundschaft. Leben ist vergänglich, aber die Liebe bleibt. Für immer.

Leb wohl, alter Freund!

c privat